2014/02/28

Und einmal in vier Jahren...

Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich in den beinahe sechs Jahren, seitdem dieser Blog existiert, noch nie über Politik geschrieben. Und auch diesmal tue ich es nur ansatzweise, denn in Wirklichkeit geht es in diesem Beitrag – wie so oft – um meine Gedanken und Gefühle. Und das in dem wohl längsten Eintrag, den dieser Blog bisher gesehen hat, schließlich handelt der Post indirekt von meinem – unserem – ganzen Leben.

Im Jahr 2002 durfte ich das erste Mal wählen gehen, zumindest im Rahmen der wichtigsten Stimmabgabe, also einer Parlamentswahl. Dieses Jahr im April wäre es also das vierte Mal, dass ich meine Stimme bei einer Parlamentswahl abgeben könnte. Könnte, denn so wie es jetzt aussieht, werde ich dieses Jahr nicht wählen gehen. Zumindest ist es das, was ich nun schon seit geraumer Zeit fühle und denke, aber bis zum April habe ich ja noch mehr als einen Monat Zeit zum Grübeln.
Nach dem, was wir von unserer Familie hier in Ungarn gehört und im Geschichtsunterricht gelernt haben, war es mehr als selbstverständlich, dass ich bisher von meinem Wahlrecht Gebrauch gemacht habe. Nach langen Jahrzehnten hatte unser Volk endlich die Möglichkeit, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Dazu wollte ich natürlich stets meinen winzigen Beitrag leisten. Wahrscheinlich war es beim ersten, zweiten, ja vielleicht sogar beim dritten Mal vor vier Jahren der Reiz des Neuen, der mich zur Wahlurne trieb. Oder die Tatsache, dass man ja nicht jede Woche oder jeden Monat wählen geht.

Dieser Reiz ist verflogen, die Zeit des Kommunismus – die meine Generation sowieso fast nur mehr vom Hörensagen kannte –, ist verblasst, das Gespenst des Kommunismus geht nicht mehr um in Europa – oder zumindest nicht in unserem Land. Aus dem so oft versprochenen Aufstieg, dem Aufschließen zu den westlichen Ländern – oder gar nur zum benachbarten Österreich – ist trotz der Regierungen, die kamen und gingen, und trotz unseres EU-Beitritts nichts geworden. Stattdessen haben wir ein Europa der zwei (oder vielleicht sogar mehr) Geschwindigkeiten. George Orwell lässt schön grüßen: „Alle Tiere sind gleich. Aber manche sind gleicher als die anderen.“
Die bisherigen Regierungen in Ungarn versprachen viel und hielten nur wenig – noch weniger, als es Politiker üblicherweise in anderen Ländern tun. Sozialisten und Rechtskonservative hatten gleichermaßen die Möglichkeit, Sympathien zu gewinnen, ihren Worten Taten folgen zu lassen, die Menschen zu überzeugen. Erstere acht Jahre am Stück und insgesamt zwölf Jahre lang (1994–1998, 2002–2010), die Rechtskonservativen in den letzten vier Jahren mit einer überaus seltenen und überragenden Zweidrittelmehrheit und – in Form von zwei verschiedenen Regierungsparteien – ebenfalls zwölf Jahre lang (1990–1994, 1998–2002, 2010–2014). Ein klassisches Unentschieden.

Auch in meinem Kopf. Die Gründe, warum ich die einen nie und die anderen nicht mehr wählen würde, reihen sich dicht aneinander. Neben den zwei großen Parteien wird die extreme Rechte immer stärker, die für mich ebenfalls nicht in Frage kommt. Und die drei-vier kleineren Mitte-Links-Parteien haben sich allesamt mit den Sozialisten verbündet, um zumindest irgendwie in Erscheinung zu treten und die Rechtskonservativen endlich abzulösen. Was übrig bleibt sind noch kleinere Splitterparteien, mit denen ich mich nicht oder nur teilweise identifizieren kann.
Von den zahlreichen Versprechen wurden auch in den letzten vier Jahren nur wenige gehalten. Die große Chance der Zweidrittelmehrheit wurde oftmals nur dazu genutzt, die eigenen Positionen zu stärken, überall die eigenen Gefolgsleute einzusetzen, die eigene Hosentasche zu füllen und die Möglichkeiten des Gegners so gut es geht zu schmälern. Viel zu selten stand das Volk im Mittelpunkt des Interesses. Maßnahmen, die scheinbar Geld in unserer Tasche ließen, stehen Maßnahmen gegenüber, die uns woanders Tag für Tag das Geld aus der Tasche ziehen. Was vor vier-fünf Jahren vehement bekämpft wurde, nur weil es der politische Gegner tat und wollte, wird jetzt ohne Wenn und Aber durchgesetzt, weil es endlich den eigenen Interessen dient.
Der Schein des Konservativismus, der Vertretung christlicher Werte trügt noch viele, mich aber nicht mehr. Aus dieser Sicht kann ich nunmehr immer klarer zwischen meiner Wertvorstellung und der Welt der Politik unterscheiden und wähle eine Partei nicht deshalb, weil sie mir vorgaukelt, meine Wertvorstellung zu vertreten. Was in aller Welt soll denn an Lügen, Stehlen, Betrügen und Schikanieren denn so christlich sein?

In Kenntnis der Geschichte hielt ich es lange – so wie viele – für beschämend, nicht wählen zu gehen. Schließlich hatten unsere Eltern und Großeltern nicht oder nur begrenzt diese Möglichkeit, und auch heute noch gibt es Dutzende von Ländern auf der ganzen Welt, in denen bestenfalls eine einzige Partei auf dem Stimmzettel steht.
Genau ein Vierteljahrhundert ist seit der Wende vergangen, und ich muss sagen: Dass ich nicht wählen gehe – wenn es denn so kommen sollte –, ist nicht aus meiner Sicht eine Schande, sondern aus Sicht der politischen Vertreter meines Landes. Aus der Sicht all derjenigen Politiker, die uns hätten vertreten sollen, sich stets unsere Interessen hätten vor Augen halten müssen, und nicht ihr Wohl, ihre Karrierechancen, ihren Geldbeutel und die Bekämpfung – ja sogar politische Liquidierung – des Gegners.

In jedem „normalen“, „zivilisierten“ Land besteht die Chance, dass Links und Rechts miteinander reden, diskutieren, in Bezug auf die Eckpunkte der Entwicklung des Landes, auf das Leben der Menschen eine Übereinkunft treffen, ihren Standpunkt einander annähern, das  Land gemeinsam nach Außen vertreten. 
In Ungarn dagegen wird der politische Gegner im Ausland angeschwärzt, die politische Gespaltenheit spaltet auch die Menschen, nicht einmal in Eckpunkten der Sozialpolitik, Gesundheitspolitik, Bildung, des Umweltschutzes oder der ungarischen Geschichte kommt man zu einem Konsens. Da wird sogar Letztere aus zweierlei Gesichtspunkten interpretiert, je nach Zugehörigkeit zur politischen Ecke. Ein Dialog, ja selbst eine kultivierte Diskussion findet nicht statt, Fernsehduelle werden boykottiert, der Gegner wird stattdessen abgehört und unmöglich gemacht. Die Medien sind ebenfalls gespalten, berichten je nach Parteizugehörigkeit von den Geschehnissen und versuchen, die Menschen zu beeinflussen.
Was die Menschen von denen „da oben“ sehen, das tun und vertreten sie dann auch im Alltag – und wahrscheinlich auch umgekehrt. Den anderen anschwärzen, die eigenen Brötchen backen, Ellenbogenmentalität statt Menschlichkeit und Toleranz. Leben und sterben lassen statt leben und leben lassen. So sieht es leider aus, und das schon seit langen Jahren, Jahrzehnten.

Jeder kann denken, was er will, aber in solch einer Situation wundere ich mich persönlich ganz und gar nicht darüber, wo ich in meinen Gedanken allmählich angekommen bin. Klar könnte ich das kleinere Übel wählen, aber wie könnte ich dann die Taten, Worte und Gedanken rechtfertigen, die ich zutiefst verachte und mit denen ich ganz und gar nicht einverstanden bin? Die oft im Ernst betonten Argumente, dass die anderen nicht wiederkommen dürfen, weil sie ein Werk des Teufels sind, und dass die einen für immer und ewig abgewählt werden müssten, weil sie das Land ruinieren, sind wohl mehr als lächerlich. Ich bin immer mehr der Ansicht, dass die Ideen und Konzepte der einen mit denen der anderen vermengt werden müssten, um eine Synthese zu erzielen. Womit wir wieder bei der Wichtigkeit eines Dialogs wären, der aber leider nicht existiert.

Langer Rede kurzer Sinn: Die Toten Hosen haben es aus der Sicht Deutschlands mit dem Lied Einmal in vier Jahren ein bisschen übertrieben, denke ich. Aber aus der Sicht Ungarns haben sie den Nagel leider auf den Kopf getroffen…

„Jeden Tag wird uns erzählt, / dass die Stunde X bald kommt / und dass dann alles besser wird, / wir bräuchten nur Geduld. / Im Sessel weit zurückgelehnt verfolgt das ganze Land / jede Endlos-Nutzlos-Diskussion im Fernsehprogramm.

Wir sitzen in der ersten Reihe, als ob wir alle scheintot sind, / hör’n auf leere Worte und klammern uns daran fest. / Wie letztes Mal, wie letztes Mal...

Wir lassen uns gern für dumm erklär’n, / als würden wir nichts verstehen / von den ungeschriebenen Gesetzen, / um die die Welt sich dreht. / Keinen Reichtum ohne Armut, / kein Gewinn ohne Betrug, / und ständig redet man uns ein, / dass man alles dagegen tut. / Beim nächsten Mal, beim nächsten Mal…

Und einmal in vier Jahren / kriegt man einen Zettel in die Hand, / um ein kleines Kreuz zu malen, / damit alles seine Ordnung hat.

Danach werden wir wieder nach Hause geschickt, / mit der Bitte, jetzt ruhig zu sein, / denn es ist unsere Entscheidung, / wer uns die nächste Krise zeigt.

Friede, Freude, Eierkuchen / heißt das Wahlprogramm, / das immer noch am besten zieht / in diesem schönen Land. / Wie jedes Mal, wie jedes Mal...“

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