2022/05/29

Lesen und lesen lassen

In Zeiten von Pl*ystation, N*tflix, Handy und Co. sind Bücher nicht mehr wirklich in. Wenn, dann höchstens in Form von E-Books. Und das Lesen von Belletristik ist wohl auch nicht mehr das, was es einmal war. Gut, einige von uns versuchen noch, diesem Negativtrend etwas entgegenzusetzen, mal mit größerem, mal mit geringerem Erfolg. Aber die Tendenz ist seit Jahren unverkennbar. Es reicht, wenn man einen Blick auf die Menschen in den öffentlichen Verkehrsmitteln wirft, die zumeist auf ihr Handy starren. Nur noch selten findet man Mitmenschen, die – so wie noch früher – ein stinknormales Buch lesen.

Dass aber Bücher noch einen gewissen (intellektuellen) Wert besitzen und zumindest dafür sorgen, dass man vom Gegenüber denkt, er wäre belesen, also klug, hat man nicht zuletzt zumindest zu Beginn der Pandemie gemerkt: Da waren ziemlich viele der Meinung, sei es bei virtuellen Meetings am Arbeitsplatz oder virtuellen Interviews mit berühmten Menschen im Fernsehen, unbedingt vor einem Bücherregal oder einer Bücherwand posieren zu müssen, um Eindruck zu schinden.

Den Gedanken, dass Menschen, die viele Bücher besitzen, diese nicht unbedingt auch gelesen haben und vielleicht gar nicht so klug sind, hatten zwar sicherlich viele, verdrängten ihn jedoch. Schließlich ist zumindest die Chance, belesen zu sein, größer, wenn man im Besitz vieler Bücher ist, als wenn man gar keine oder nur wenige zu Hause herumliegen hat.

Früher war alles besser, früher war alles anders, könnte man sich denken. Dass dem aber nicht so ist, musste ich jetzt wieder einmal feststellen, als ich gestern den Abenteuerroman Der Graf von Monte Christo von Alexander Dumas begonnen habe. Ich habe schon viel Gutes über das Buch gehört, es aber bislang noch nicht gelesen. Mal sehen, wie es mir gefallen wird. Die bei uns im Bücherregal stehende dreibändige Ausgabe stammt aus dem Nachlass der Oma der Dame des Hauses und befindet sich seit dreieinhalb Jahren in unserem Besitz. Herausgegeben wurde die Version im Jahr 1963, also vor fast sechzig Jahren.

Sechzig Jahre hin oder her: Bisher hat ganz sicher niemand diese Ausgabe gelesen. Die Hardcover-Version machte Jahrzehnte lang sicherlich einen schönen Eindruck im Bücherregal, diente mit anderen Büchern als Schmuckstück des Wohnzimmers und war in der damaligen Zeit als Wertanlage gedacht. Trotzdem war ich sehr erstaunt, als ich so um die Seite 50 des ersten von drei Bänden, also ziemlich am Anfang der Geschichte, bemerkt habe, dass gleich drei Seiten am unteren Rand nicht mit der Maschine durchgeschnitten sind. Sie waren nicht verklebt, sondern nicht vollständig durchtrennt, sodass man sie in dieser Form nicht lesen konnte.

Ich möchte natürlich nicht abstreiten, dass der Wille womöglich da war, den Roman irgendwann einmal zu lesen, bevor dann mal dies, mal das – kurz: das Leben – dazwischenkam, oder ganz einfach die Lust dazu fehlte. Ich kenne das zu gut von mir selbst, muss ich gestehen, wenn ich jetzt ins Bücherregal blicke. Aber es lohnt sich festzuhalten: Von einer großen Hausbibliothek oder dem Besitz von Klassikern der Weltliteratur konnte man früher, als Bücher noch oft als Wertanlage gedacht waren, genauso wenig auf die Belesenheit und das Wissen der Besitzer schließen, wie heute, in Zeiten von Z*om und Te*ms.